Mein Weg nach Hause – Das Romita-Prinzip

„Siehe ich sende einen Engel vor dir her, der dich behütet und beschützt und der dich führt an den Ort, den ich bereitet hab’…“

Seit meiner Ankunft auf der Romita am 19. Mai 2018 habe ich meine Seiten hier nicht weiter geschrieben. Das L(i)EBEN auf der Romita war intensiv. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Nie habe ich den Faden losgelassen und mindestens Tagebuch geführt. Das Schreiben tut mir gut. Es hilft mir, mich zu sortieren und klarer zu sehen; den nächsten Schritt zu machen, Träume zu erkennen, mich von Illusionen und Täuschungen zu befreien. Und ich schreibe, um Werte, Wissen und Erkenntnisse weiterzugeben, Mut zu machen, aufzurufen und mit dir zu teilen. Im Frühjahr 2020 schrieb ich einen ersten Brief an die Freunde der Romita. So vieles bewegte mich in diesen Zeiten, dass ich meine Gedanken nicht für mich allein behalten wollte und konnte. Und nun – endlich – geht es auch hier weiter.

Ich habe lange überlegt, wo ich anfangen soll, denn mein Weg nach Hause beginnt schon mit der Entscheidung meiner Seele, jetzt auf und in dieser Welt zu sein; mir meine leiblichen Eltern auszuwählen; die Umgebung, in der ich aufwachsen werde; mit all’ den Begegnungen, Beziehungen, Erfahrungen und Orten, die mich formen und prägen werden; mit all’ den Entscheidungen, die ich treffen werde – vor allem an den großen Weggabelungen. All’ das ist Mein Weg nach Hause. Konkret erzählen möchte ich dir jetzt von dem Teil meines Weges, der mich in die Einsiedelei La Romita di Cesi in Italien/Umbrien brachte; vom Weg auf dem Cammino di San Antonio, di Assisi und di „qui passó Francesco“ und von meiner Zeit auf der Romita.

Das Leben ist ein großes Wunder!

Vor dreieinhalb Jahren habe ich mich auf Meinen Weg gemacht. Alten Wegen folgend, auf den Spuren der Hl. Hildegard von Bingen, um letztendlich auch Meinen Ort zu finden, den ich schon lange in mir spüre. Doch wo ist dieser Ort? Ich wusste irgendwie, dass ich ihn finden werde! Am 19. Mai 2018, 3500 km weiter, bin ich angekommen – in mir, an meinem Ort, in meiner Aufgabe, Zuhause – auf der La Romita di Cesi in Umbrien, der Grünen Lunge Italiens. Die Sehnsucht und mein Herz haben mich aufgefordert, diesen – Meinen – Weg zu gehen. Die Liebe und mein Glaube waren und sind mein Schiff; tiefes Vertrauen und Mut meine Segel; Familie, Freunde und die vielen Begegnungen unterwegs mein Anker; die Schöpfung mein Licht. Ich danke allen, die in dieser zum Teil sehr schwierigen Zeit an mich geglaubt, zu mir gehalten, mich unterstützt und mich begleitet haben (und es weiter tun) – egal ob aktiv oder passiv, direkt oder indirekt.

„Der Herr ist mein Hirte. Du schützt mich und führst mich. Deine Güte und Liebe umgeben mich an jedem neuen Tag; in deinem Haus darf ich nun bleiben mein Leben lang.“ (Ps 23, 1,4,6)

Den Winter 2017/2018 und das Frühjahr verbrachte ich in meiner Heimat und mit meiner Familie und auch diesmal hatte ich wieder die Gelegenheit für meine Heimatstadt zu arbeiten. Dann geht es wieder los. Und wieder ist alles sehr aufregend. All’ die Vorbereitung und Organisation, das erneute Loslassen der vertrauten Umgebung, von Familie und Freunden. Gleichzeitig aber die Klarheit und die Gewissheit in mir zu tragen, dass das Mein Weg ist; dass ich gar nicht anders kann und will. Dennoch ist es diesmal anders. Nicht nur, weil ich in ein anderes Land, mit nur wenigen italienischen Worten im Gepäck, gehe, sondern auch ahnend, dass ich mein Heimatland für längere Zeit verlassen werde. Am 27. April bringt mich meine Familie zum Bahnhof. 18:18 Uhr: die kleine Oderlandbahn fährt ein. Den ganzen Tag war es mir schwer um’s Herz. Doch nun geht mit jedem Kilometer das flaue „Abschiedsgefühl“ und macht wieder Platz für die Freude. Freude auf alles was da vor mir liegt. Freude auf das Leben.

Und schon am nächsten Tag schließt mich mein Pilgerfreund und Engel Angelo in Mailand in seine Arme. Das macht es mir leicht, schnell anzukommen, in Italien, auf Neuem Land. Wir geniessen Licht und Wärme, einen Moment die Piazza del Duomo, um uns nach einem Caffé und lecker Eis (ich kann an Eis einfach nicht vorbeigehen) gleich wieder den Weg aus der Stadt zu bahnen und in die Natur einzutauchen. Wir finden einen schönen See und eine Strandbar und gleich in der Nähe einen geschützten Platz, an dem wir im Auto übernachten. Einfach. Wunderbar. Am nächsten Morgen machen wir uns auf zu unserem gemeinsamen Pilgerfreund des Herzens, Vincenzo, an die Adriaküste. Hier kann ich nochmal ins Meer eintauchen, bevor ich am 1. Mai meinen Weg in den italienischen Bergen, dem Apennin, wieder aufnehme. Zuvor aber laufen die Emotionen in mir über. Aus Theorie wird nun Praxis. Und aus ‚geplanten’ vier Tagen Pilgern werden zwanzig. Ursprünglich hatte ich vor, von Assisi bis zur Romita zu gehen, aber mit meinem Sein in Italien und der frischen, freien Frühlingsluft, schlägt mein Pilgerherz laut und fordert mich auf, meinen Weg neu zu zeichnen. Als Vincenzo den Ort Dovadola ausspricht, weiß ich, dass das mein Ausgangsort ist. Hier beginnt der Cammino di Assisi, ein Teil auf dem Cammino di Sant’Antonio di Padova. Welch’ ein Segen, dass eine liebe Freundin, vollkommen unerwartet, bedingungslos und frei, mein Konto füttert. Sie verfolgt meinen Weg von Anfang an, begleitete mich sogar ein paar Tage ganz physisch, indem sie gemeinsam mit mir auf der Via Regia in Sachsen läuft. Sie bekam selbst unerwartet etwas Geld aus einer Erbschaft und wollte Meinen Weg nun auf diese Weise mit unterstützen. Ich bin so unendlich dankbar und berührt für diese wunderbare Gabe. Das half mir, mich ganz frei zu fühlen und mich dem Fluß des Lebens wieder ganz anzuvertrauen. Gleichzeitig war es für mich ein ganz klares Zeichen, es genau so zu tun. Unsicherheiten lösten sich vollkommen auf. Beschwerende, weil so unerwartete Emotionen, wandelten sich in Leichtigkeit und Freude. Freude auf mehr Zeit unterwegs. Auf Zeit, die mich mit der Natur, dem Land und seiner Kultur verbinden wird. Zeit, um wieder loszulassen, was ich nun nicht mehr brauche. Und so führt mich mein Weg 450 km durch die Regionen Emilia-Romana, die Toskana und Umbrien.

„Herr, du durchschaust mich, du kennst mich bis auf den Grund. Ob ich sitze oder stehe, du weißt es, du kennst meine Pläne von ferne. Ob ich tätig bin oder ausruhe, du siehst mich; jeder Schritt, den ich mache, ist dir bekannt. Noch ehe ein Wort auf meine Zunge kommt, hast du, Herr, es schon gehört. Von allen Seiten umgibst du mich, ich bin ganz in deiner Hand. Dass du mich so durch und durch kennst, das übersteigt meinen Verstand; es ist mir zu hoch, ich kann es nicht fassen.“ (Ps 139, 1-6

1. Mai 2018, früh am Morgen. Ich packe meinen Rucksack und packe ihn später noch einmal aus. Vincenzo, der alte Pilgerhase, erklärt mir, dass ich ‚dies und das’ nicht brauche! Ich bin schon so minimalistisch geworden und doch gibt es immer wieder kleine Dinge, von denen ich mich (noch) nicht lösen kann, die meinen Rucksack aber beschweren: Ein wunderbares Bild für das Leben. Angelo fährt mich nach Dovadola und begleitet mich noch ein Stück auf dem Weg, der sofort steil bergauf in den Apennin geht. Meine Emotionen gehen wieder mit mir durch. Ich muss weinen. Kriege, wegen des steilen Anstiegs, keine Luft mehr und bitte Angelo, mich allein weitergehen zu lassen. Es ist Mein Weg, den ich nur allein gehen kann. Noch ein paar Mal ringe ich nach Luft, lasse die Tränen einfach laufen, weine laut. Ich weiß nun gewiss: dieser Weg wird noch einmal Vieles von mir nehmen und aus-TAU-schen. Ich bin sehr berührt, dankbar, neugierig, ängstlich auch. Was wird alles sein? Je länger ich laufe und mich mit Mutter Natur verbinde, desto besser geht es mir, klarer werde ich, stärker und kräftiger.

„Du hast mich geschaffen mit Leib und Geist, mich zusammengefügt im Schoß meiner Mutter. Dafür danke ich dir, es erfüllt mich mit Ehrfurcht. An mir selber erkenne ich: Alle deine Taten sind Wunder! Ich war dir nicht verborgen, als ich im Dunkeln Gestalt annahm, tief unten im Mutterschoß der Erde. Du sahst mich schon fertig, als ich noch ungeformt war. Im Voraus hast du alles aufgeschrieben; jeder meiner Tage war schon vorgezeichnet, noch ehe der erste begann. Wie rätselhaft sind mir deine Gedanken, Gott, und wie unermesslich ihre Fülle! Sie sind zahlreicher als der Sand am Meer. Nächtelang denke ich über dich nach und komme an kein Ende.“ (Ps 139, 13-18)

Die Wegmarkierung auf dem Cammino di Assisi und dem Franziskusweg ist das TAU. Es ist der 19. Buchstabe des Griechischen Alphabetes, der letzte Buchstabe des Hebräischen und in der christlichen Symbolik das Symbol des Franziskanerordens. In der Bibel steht: „Von denen, die das Tau auf der Stirn haben, dürft ihr keinen anrühren!“ (AT Ez 9,6). Auf der Internetseite http://www.franziskaner-minoriten.de finde ich die folgenden passenden, mutschenkenden Worte: „Tau – du bist geborgen in der Gemeinschaft. Tau – du bist gerettet, erlöst, befreit zum Leben. Tau – du bist gesendet (…) Das Tau möge dir ein Zeichen sein (…) Er geht alle Wege mit dir. Und weil Er geht, kannst auch Du gehen – hin zu Mensch und Welt. Auf und geh und verkünde Seine Botschaft der ganzen Schöpfung! Erzähle den Menschen von Seinem froh machenden Wort, schaffe Werke und Gerechtigkeit und Frieden, aber vor allem tu eins: Lebe! Lebe als erlöster Mensch, als Mensch, der weiß, dass es gut ausgeht, als Mensch der strahlt, weil Er ihn liebt.“
Für mich bedeutet dieses Symbol, das aussieht wie ein T, auch: Auf Augenhöhe mit meinem Schöpfer und der gesamten Schöpfung in Beziehung sein. Im AusTAUsch sein. Einssein. Denn, begegnen wir dem TAU und dem was es uns vermitteln möchte tatsächlich, TAUscht es etwas in uns aus. Etwas Neues entspringt in uns wie der Fluss der Quelle entspringt. Es verbindet uns mit dem Ganzen wie der Fluss mit dem Großen Meer verbunden ist. Das TAU vermittelt uns ein Gefühl von Wärme, Heimat, Wahrheit, Einheit.

Meinen ersten Pilgertag erlebe ich wie im Traum. Anstrengend. Wunderschön. Emotional. Eine aus Bergen und Tälern geschwungene Landschaft in sattem Grün und durchdrungen von betörend schönem Duft. Weite Blicke. Steile Anstiege. Die pure Präsenz der Elemente. Es wird in den kommenden Tagen viel regnen. Der Regen wäscht ab, was wir nicht mehr brauchen. Der Wind trocknet uns, trägt uns Neues zu, singt und spricht zu uns. Mutter Erde nimmt unsere Füße liebevoll auf und wandelt um, was wir mit jedem Schritt an sie abgeben. Und das Feuer wärmt uns am Abend, leistet uns Gesellschaft, schenkt uns Kraft und Mut.
Ich mag es sehr im Regen zu gehen. Gut geschützt im Poncho und warm angezogen, kann ich das stundenlang. Tagelang. Ich erlebe diese Momente als ein Geschenk der Schöpfung, ein fühlbarer Kontakt mit Mutter Natur, eine göttliche Umarmung. Gern erinnere ich mich in diesen Tagen an die Regentage und meiner ganz besonderen Begegnung auf dem Jakobsweg, dem Camino Francés. Die Natur ist in Nebel gehüllt. Das Grün leuchtet kräftig. Die Stimmung ist einzigartig. Tiefe Wolken und Dunst hängen in den Bergen, Nebel in den Tälern. Dazwischen gibt es wunderschöne, weite, freie Blicke in die traumhafte Landschaft des Apennins. Manchmal kommt die Sonne und es wird schwül warm. Grünes Blattwerk und meist weiße Blüten verschmelzen miteinander zu einem Bild und ringen um den schönsten Duft. Ich atme ihn tief und laut ein und staune, wie jedes Jahr neu, über den Frühling! Wie alles kraftvoll wieder neu erwacht, neu geboren wird. Manchmal laufe ich durch kleine, alte Dörfer, in denen ich dann einen schönen heißen Cappuccino genieße; über alte Brücken, vorbei an kleinen Kapellen. Die Menschen sind freundlich und von Zeit zu Zeit auch neugierig, überrascht, fragend, staunend. Es ist gut, wenn wir Pilger dies bei den Menschen auslösen. Wir können Mut machen, sich selbst „auf den Weg“ zu machen, – auf die ganz eigene Art und Weise. Jede noch so winzig kleine Licht-volle Veränderung ist es wert. Aus meiner Sicht haben wir Pilger eine Verantwortung, nicht nur uns selbst gegenüber, sondern auch gegenüber der Schöpfung mit all’ ihren Lebewesen, den Menschen, denen wir auf unserem Weg begegnen. Wie Hildegard von Bingen glaube ich an die Verantwortung, in die wir alle gerufen sind. „Wir sind Geschöpfe, aber auch Mitschöpfer Gottes. Jede unserer Gedanken, Worte und Taten gestalten unser aller Leben. Wir können die Welt aufbauen, sie aber auch ins Chaos stürzen. Die Entscheidung liegt bei uns.“ Wir erleben heute, dass nur noch wenige Menschen wirklich Verantwortung übernehmen wollen und vor allem können. Unsere Gesellschaft hat es verlernt, eigenverantwortlich zu fühlen, zu denken und zu handeln. Wir hören auf zu glauben, verlieren das Vertrauen und werden von Unsicherheit und Selbstzweifeln geschwächt. Die Angst ist oft größer als die Liebe. Die Freude macht sich rar. Erschöpfung ist eingezogen. Ein Gefühl der Ohnmacht. Wir beginnen, uns im Kreis zu drehen und suchen nach dem Schuldigen. Perfekt ist die Opferrolle. Wir geben die Verantwortung ab und sind nicht mehr Herr unserer Selbst, lassen nun die anderen für uns entscheiden. Wir sind Macht-los. Und der Staat, die Wirtschaft, das System nutzt das Ganze zu seinem Vorteil.

Mensch, werde dir deiner Schöpferischen Kraft und Macht bewusst! Niemand ausser Dir selbst ist verantwortlich für Deinen Seinszustand! Du bist der Ursprung.“ Hildegard von Bingen

„Wie könntet ihr schöpferische Wesen sein, wenn ich euch diktierte, was ihr sein, tun und haben sollt? Meine Freude liegt in eurer Freude, nicht in eurer Willfahrigkeit oder Unterwerfung“ (aus Gespräche mit Gott – Band 1/S. 252)

Von den Düften der Natur getragen, von Mutter Natur umsorgt und seit dem ersten Tag von einer Amsel begleitet, fühle ich mich wohl und sicher.
Nach Dovadola, Corniolo und Camaldoli, über Berge und Täler und kraftvolle Wälder, erreiche ich den magischen Wald von La Verna mit seinen wesenhaften Steinen, Felsen und Bäumen.
Die Schönheiten der Natur: über Sansepolcro nach Città di Castello.
Gubbio.
Über Valfabbrica nach Assisi.

Im März 2016 war ich das erste Mal in Assisi. Ich wusste so gut wie nichts von der Stadt oder dem Heiligen Franziskus. Doch als ich die kleine Portiuncula, im Inneren einer riesigen, faden Kirche versteckt, im wahrsten Sinne des Wortes ent-deckte, war es wie ein tiefes Erinnern; als wäre ich schon einmal hier gewesen. Ein Zauber geht von ihr aus. Das ist der Geburtsmoment, in dem ich mich fragte, was Hildegard und Franziskus miteinander verbindet. Die Antwort erhalte ich ich spätestens in der Zeit der 1. Corona-Quarantäne im Frühjahr 2020 auf der Romita di Cesi. (Dazu gibt es einen Brief, den ich an die Freunde der Romita und zum Teil auch schon an euch verschickt habe. Ich werde ihn als eigenständigen BLOG einstellen.) In diesem Moment spüre ich auch die reine, mütterliche, liebevolle, sanfte, umhüllende, schenkende, strahlende Energie der Mutter Jesu – Maria. Ich werde diese heilsame Energie nie vergessen. Es gibt Momente, in denen ich diese annähernd spüren kann: Momente der Gegenwart, Freude, Liebe und Leichtigkeit. Momente der Einheit und Sorglosigkeit.

Basilika San Francesco.

Assisi war ursprünglich ein alter Ort der Umbrer und um 400 v.Chr. von den Römern kolonisiert und terrassenförmig auf einem Felsrücken des Monte Subasio ausgebaut. Das mittelalterliche Stadtbild mit Stadtmauer und Festungsruine ist immer noch gut erhalten und seit dem Jahre 2000 Weltkulturerbe. Assisi ist der Geburtsort des Hl. Franz von Assisi, Begründer des Franziskanerordens. Hier bleibe ich zwei Tage und ruhe mich etwas aus, entdecke die Stadt und ihre vielen Geheimnisse. Von hier aus sind es nun nur noch 4 Tage bis zur La Romita. Ich spüre Vorfreude und Aufregung.

Die tanzenden Olivenbäume von San Damiano.
San Damiano.
Monte Subasio und Eremo delle Carceri.
Spello. Trevi. Spoleto.
Umbriens ältester Olivenbaum: 1.700 Jahre – 9 m Umfang – 5 m Höhe
Meine Ankunft auf der Romita di Cesi am 19. Mai 2018. Es ist Pfingsten und der 27. Wiedergeburtstag der Romita. Zufall?

An dem Tag der Ankunft auf der Romita bin ich aufgeregt. Wie wird es sein? Was erwartet mich? Das Wissen darum, dass ich gebraucht werde und Willkommen bin, hilft mir. Es hilft mir auch der Regen und der wunderschöne Weg. Es geht hoch und wieder runter, in den Wald und wieder aus ihm heraus. Dann irgendwann spüre ich, dass ich jeden Moment da sein müsste. Diese Alten Orte strahlen weit, die Umgebung verändert sich, die Energie erhöht sich, die Bäume werden zu sprechenden Zeitzeugen – das habe ich schon öfter erlebt. Und tatsächlich. Die Alte Mauer verrät es und dann sehe ich sie: La Romita di Cesi. Sie strahlt mich an, mitten im Wald, wie eine Oase. Eine Weile schaue ich sie mir von außen an und trete dann ganz vorsichtig ein, gehe mit leisen, sanften Schritten auf das Eingangstor zu. Bis mich eine Horde von Scouts (Pfadfindern) laut und trampelnd überholt und das wunderschöne Eisentor mit der Inschrift „Clausura“ aufreißt… Eine surreale Szene. Ich trete mit ein und finde mich wieder unter vielen Menschen. Eine Feiertagsstimmung liegt in der Luft. Es ist der 27. Geburtstag der Romita seit der Wiederentdeckung von Bruder Bernardino und es ist Pfingsten! Viele sind gekommen. Einige darunter, die am 19. Mai, einem Pfingstsonntag vor 27 Jahren, den ersten „Spatenstich“ gemeinsam mit Fra Bernardino getan haben, um die Romita wieder aufzubauen. So auch Dieter und Jutta. Jutta begleitet mich zu den Schlafräumen. Es sind die ehemaligen Zellen der Brüder, die im 13. Jahrhundert mit dem Heiligen Franz von Assisi hierher kamen und 600 Jahre blieben. Ich wähle das Zimmer 5. Sie führt mich strahlend weiter durch die Romita, zeigt mir den Platz unter der mächtigen Libanon Zeder, wo wir auch essen werden; die Küche, den Kreuzgang, die kleine Capellina Benedettina, die der Ursprung der Romita ist; die lichtvolle Kirche Santa Maria Assunta mit ihrer runden Kuppel, den Garten und das Belvedere, welches eine wundervolle Aussicht ins Tal und auf die gegenüberliegenden Hügelketten gibt. Ich staune. Ich habe sie mir nicht so groß vorgestellt und auch nicht so schön. Ich werde in den nächsten Monaten immer mehr über ihre Schönheit und Fülle staunen und vor allem werde ich hier, Stück für Stück, die Orte meines Herzens wiederfinden.

Die Glocke ruft zum Abendgebet. Es ist 19.30 Uhr. Alle versammeln sich im runden Chorgestühl hinter dem Altar. Auch die Hunde. Fra Bernardino spielt die Orgel. Ich sitze ihm schräg gegenüber und sehe wie sich der Klang im Raum verteilt und wie der Raum das Licht umschließt. Ich sehe in die Augen, in die Seele von Bernardino. Und weine. Zwei Tage lang. Ich empfinde Liebe & Schmerz gleichzeitig. Vor allem aber die Liebe für diese Seele und diesen Ort. Mein Herz ist weit und geöffnet. Die Atmosphäre der Kirche, geschaffen aus Klang, Licht und Form unterstützt diesen Moment. Dazu die Hunde, die auch die kleine Auszeit, das Zusammenkommen genießen und mit uns meditieren, während die drei Welpen an ihrer Mutter säugen. So wird mir die Kirche schnell vertraut und zu einem wichtigen Rückzugs- und Zufluchtsort.

Alles ist gleichzeitig. Ich wurde hierher geführt. Zuhause und Aufgabe. Wahrhaftigkeit. Heilung.

In den kommenden Tagen, Wochen und Monaten erlebe ich alles halb im Traum, bin ganz viel Geist und Seele, aber auch Körper und staune über all das Schöne und Wunderbare hier oben. La Romita: sie ist ein sehr alter Ort und Einsiedelei, die auf 800m Höhe auf einem Felsvorsprung liegt, umgeben von den dichten umbrischen Wäldern, in dem vor allem die immergrüne Steineiche zuhause ist. In den Tälern gibt es viele Oliven, Wein, Landwirtschaft, Flüsse, Quellen, alte Straßen und Wege. Sie liegt unmittelbar am Franziskusweg, einem historischen Pilgerweg. Viele Pilger werden v.a. in den warmen Monaten liebevoll von ihr aufgenommen. Einige bleiben gleich zwei Tage und andere kommen immer wieder. Manche auch für mehrere Wochen und dienen der Romita und all’ den Menschen, die den Weg hierher finden, oft bedingungslos. So geschah auch der Aufbau der Romita. Mit der ersten Stunde, als Fra (ital. frate=Bruder) Bernardino die Romita vor 27 Jahren wiederentdeckte, haben viele, viele Menschen ebenso bedingungslos, leidenschaftlich und liebevoll, die damals zur Ruine eingefallene Romita wieder aufgebaut. Ein großes Wunder wurde hier vollbracht. Sie ist für mich ein Beispiel dafür, dass nichts unmöglich ist! Im 9.Jh. haben die Benediktiner eine kleine Kapelle im Wald errichtet. Bernardino geht davon aus, dass es schon vorher einen Tempel an dieser Stelle gegeben haben muss. Aufzeichnungen gibt es dafür nicht, aber die Steine erzählen davon. 1213 verweilte der Hl. Franz von Assisi hier und renovierte die zerfallene Kapelle. Nach und nach entstand ein Kloster, das über 600 Jahre von ca. 25 Franziskanermönchen bewohnt war. Mit der Säkularisation mussten sie ihr Zuhause verlassen.

So lag die Romita 130 Jahre im Dornröschenschlaf und wurde im Februar 1991 von Bernardino, als Ruine und von Dornen überwuchert, wiederentdeckt. Schon im Mai des gleichen Jahres fing er mit dem Wiederaufbau an. Die liebevoll renovierten Räume werden heute gefüllt mit Menschen, Ideen und Taten. Das „Programm“ der Romita ist eine Kombination von Gebet und Arbeit (ora et labora), Theologie und Ökologie, Gottesdienst und Tischgemeinschaft, Natur und Kultur, Stille und Musik, von Aktion und Kontemplation. Sie ist eine Lebensschule. Miteinander. Voneinander. Füreinander. Auf der Basis ihrer langen Geschichte, bietet die Romita die Möglichkeit, Franziskanische Spiritualität zu leben. In einer von Lärm, Stress, Überfluss, Gottvergessenheit, Technologie, Konkurrenz, menschenunfreundlicher Wirtschaft und Zerstörung der Natur geprägten Gesellschaft, will die Romita zu einem Programm des Schweigens, des Betens, der Besinnung, der Ruhe, der körperlichen Arbeit, des einfachen Lebens, der solidarischen Gemeinschaft, der Verbundenheit mit der Natur und des Zusammenlebens mit Tieren einladen. Ein Leben in und mit der Natur.

Wir sind hier aufgefordert ganz in diesem Moment zu leben, mit allem was ist oder auch nicht ist. Es ist im Grunde wie Pilgern, nur am gleichen Ort. Täglich wechselnde Menschen, Aufgaben, Ereignisse, jedoch innerhalb einer gleichen Tagesstruktur. Das hält wach, präsent, froh und demütig. Der Tag beginnt mit dem Wecken. Bernardino spielt dazu die Kalimba, ein afrikanisches Instrument. Die Hunde begleiten ihn dabei durch die Korridore. Eine halbe Stunde später läutet die Glocke. Sie ruft und sammelt zum Morgengebet. Danach gehen wir zum gemeinsamen Frühstück in Stille. Die Stille am Morgen schätze ich ganz besonders. Nach dem Frühstück, wir sind noch alle am Tisch versammelt, besprechen wir den Tag: wer geht, wer kommt, welche Arbeiten sind zu tun,.. Und dann geht es an die gemeinsame Arbeit im Garten, in der Küche, im Wald, in den Räumen,… Nach und nach werde ich mit dem Wesen der Romita sehr vertraut; ich lerne die Abläufe im Detail kennen und übernehme Aufgaben wie die Pilgeraufnahme, Frühstück vorbereiten – später die ganze Küche, die Räume sauber halten, die Tiere zu versorgen. Ich liebe es vor allem draussen im Garten arbeiten zu können, mich mit dem fruchtbaren Boden zu verbinden, zu pflanzen, zu ernten, zu pflegen… irgendwann komme ich kaum noch dazu, fordere mir diese schöne Arbeit aber immer wieder ein. Der Boden und die auf ihm wachsenden Früchte sind hier so kraftvoll, so wunderbar – Fülle pur. Das liegt einmal an dem ganz besonderen Mikroklima auf der Romita und an dem guten Boden, den Bernardino mit all den fleißigen Helfern über die Jahre wieder fruchtbar machte. Vor allem am Anfang holten sie immerzu Blätter aus dem Wald. Bis heute macht er das, spätestens vor dem Winter, um den Boden zu schützen. Und im Sommer werden die Gartenbeete mit Grünschnitt ausgelegt, vor allem um die einzelnen Pflanzen herum. So trocknet der Boden nie ganz aus und es benötigt weniger Gieswasser.

Die Romita ist ein wahres Paradies. Es wächst und gedeiht alles in Hülle und Fülle. Mensch, Tier und Pflanze fühlen sich hier wohl. Die Lage ist einzigartig. Fast immer scheint die Sonne und gleichzeitig schützt der Wald und schenkt im Sommer kühle, angenehme Luft. Im Winter dagegen ist es auf der Romita meist wärmer als unten im Tal, wo es oft neblig ist. Die Pflanzen wachsen größer und kräftiger in einer außergewöhnlichen Vielfalt; sogar Feigen, Granatäpfel und Oliven. Als ich die erste Feigenernte miterlebte, fühlte ich mich tatsächlich wie Eva im Paradies. Es gab so viele, dass ich sie sogar trocknen konnte und wir noch Wochen später davon naschen konnten. Die Granatäpfel haben bis zum Ende des Winters gereicht und das tägliche Frühstück enorm bereichert. Fantastisch.
Das Großartigste für mich jedoch war das Leben im Einklang mit der Natur, den Elementen und den Jahreszeiten. Nie zuvor habe ich so nah in und mit der Natur leben können, ohne dass es mir dabei an etwas gefehlt hätte. Ganz im Gegenteil! Wir sind mit dem Licht aufgestanden und haben uns in unsere Räume zurückgezogen nachdem das Licht gegangen ist. Strom und warmes Wasser wird mit Hilfe der Sonne erzeugt. Das Regenwasser wird in zehn Zisternen gesammelt und ich habe nie einen Mangel an Wasser erlebt. Und wenn es knapp zu werden schien, dann konnten wir ganz bewußt noch sparsamer damit umgehen und freuten uns umsomehr über den nächsten Regen. Beim Gewitter wurden die Sicherungen abgestellt und wir konnten dem Blitz und Donner beim Kerzenschein zuhören und -sehen. Im Winter wurde mit Holz gewärmt und gekocht und nur wenige Räume auf der Romita genutzt. Im Winter ging die Romita in ihren wohl verdienten Winterschlaf und mit ihr ihre Bewohner. Grundsätzlich wurden keine Menschen aufgenommen, es sei denn, es stand unverhofft jemand vor der Tür. Und Pilger sind immer willkommen. Wenn Freunde in der Winterzeit kamen, wußten sie, worauf sie sich einlassen – auf wenig Licht und kalte Räume. Denn eine Heizung gibt es nicht. Nur wenige Räume mit Öfen oder Kaminen. Diese Winterruhe war immens wichtig. Rückzug. Stille. Kontemplation. Reflexion. Schlaf. So wie es uns die Natur vormacht.

Im ersten Winter lerne ich, nachdem ich die Sommermonate über Mimik und Gestik ein Gefühl für die italienische Sprache bekommen habe, jeden Tag eine Stunde Italienisch. Das Lernen einer Fremdsprache bringt uns näher an unsere Muttersprache. Ich verstehe die Deutsche Sprache nun als Philosophen- und Dichtersprache. Wir haben so viele wunderbare Worte und können uns so differenziert und klar darin ausdrücken, was wahrscheinlich kaum mit einer anderen Sprache möglich ist. Deshalb arbeitet die italienische Sprache auch viel mit Mimik und Gestik, was man bei den Italienern ja gut beobachten kann. Es tut mir gut, endlich die Italienische Sprache zu lernen, zu verstehen und zu sprechen. Es hilft mir in meiner Mitte, in meiner Kraft zu bleiben und hier nicht als „das kleine deutsche Mäuschen dazustehen, die ja eh nichts versteht“. Etwas überspitzt ausgedrückt, aber es gibt überall komische Menschen!
So langsam tauche ich nämlich aus meiner rosaroten Wolke auf und lande wieder mit ganzen Füßen auf dem Boden. So Wunder-voll und Groß-artig ist die Romita. Orte wie sie, sind Lichtträger. Doch wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten.
Ich erinnere mich in diesen Tagen des „Erwachens“ an das Gefühl am Meeresufer in Kap Finisterra: schluchzend lag ich in Angelos (meinem ganz persönlichen Engel) Armen, schon um den Ort La Romita wissend und ich spürte die Herausforderung. Eine innere Stimme sagte mir: „Jetzt geht es ans Eingemachte“, „Den Weg der Liebe, des Lichts und der Wahrheit zu gehen, ist kein Zuckerschlecken“. Ich ahnte was da auf mich zukommt, es hielt mich aber nicht davon ab, diesen Weg weiterzugehen. Denn woran ich mich auch immer wieder erinnere, ist, dass ich alles schaffen kann. Das haben mich die Alten Wege gelehrt. Ich bin nie allein und das Leben meint es immer, egal wie es gerade aussieht, gut mit mir, mit uns allen!

Was heißt eigentlich wahrhaftig leben?

Ich höre auf, mich selbst zu belügen. Ich folge meiner inneren Stimme, die meinem Herzen entspringt und welche die Stimme meiner Seele ist. Ich strebe nach dem Licht, das der Weg und die Wahrheit ist. Ich glaube an einen Schöpfer und weiß mich in der Verantwortung als Geschöpf innerhalb der ganzen Schöpfung. Alles ist miteinander verbunden. Ich bin Mikrokosmos im Makrokosmos. Es heißt, gegen den Strom zu schwimmen, es anders zu machen als es diese ver-rückte Welt gerade tut. Das erfordert Mut und wie Bernardino immer sagt: Ein warmes Herz, einen klaren Kopf und tätige Hände!

Seitdem ich 2014 mein Leben in Seine Hände legte, gehe ich diesen Weg des Lichts. Und alle, die mich seitdem begleiten, wissen, dass es ein Schwimmen gegen den Strom ist und gleichzeitig fügt sich alles scheinbar ganz leicht zusammen… wie ein Puzzle. Es ist ein großes Abenteuer – dieses Wunder Leben. Und wer mir 2014 gesagt hätte, ich werde in Italien leben, den hätte ich mit großen Augen angeguckt. Erst recht, dass ich mit großer Leidenschaft eine neue Sprache lernen, Singen und Klavier spielen werde. In der Tat, ich hätte einen Schweißausbruch bekommen, da mein Verstand das nie geglaubt hätte. Oder dass ich eine familiäre Beziehung mit einem Mönch haben werde, der mir Vertrauen schenkt und sein Leben mit mir teilt. Der mir seine Heimat Apulien zeigt und die Bauernhöfe, auf denen er aufgewachsen ist. Der mir seine Freuden und Sorgen anvertraut und sich wünscht, dass ich die Romita weiterführen werde. Dass ich für sieben Wochen in die Olivenernte nach Apulien, ans Ionische Meer gehen und dort auf 1000 Jahre alte Olivenbäume klettern würde, ein Haus aus Tuff renoviere, anfange Gregorianisch zu singen und die Noten für mein Lieblingslied aufschreiben kann. Niemals hätte ich das geglaubt. Das sind die Grenzen unseres Verstandes. Der kann nur das glauben, was er schon kennt. Alles andere ist ihm fremd, ungewohnt und macht ihm vielleicht sogar Angst. Und doch ist alles möglich. Und deshalb fordere ich dich auf: Träume groß und schön und gut und vertraue darauf, dass das Gute und das Schöne Teil deines Lebens sind.

Geglaubt hätte ich auch nicht, dass ich die Romita eines Tages wieder verlassen werde. Hat sie mich doch gerufen, mich aufgefordert, sie zu finden. Warum sonst trage ich seit 2008 ihre Bilder in mir? Warum sonst spürte ich mit meiner Ankunft auf der Romita, dass ich Angekommen war? Warum an ihrem 27. Geburtstag, an Pfingsten? Warum führt mich Hildegard zu Franziskus? Warum treffe ich auf Bernardino, der Franziskus in sich spürt, wie ich Hildegard in mir? …Es gibt viele Fragen und zu einigen Fragen kenne ich vielleicht auch schon die Antwort. Für einige brauche ich noch Zeit. Zum Beispiel auf die Frage: Warum waren Neid und Mißgunst der Grund, dass ich die Romita verlassen habe? Warum konnte Bernardino nicht ganz zu mir stehen? Warum war die Angst größer als die Liebe?

Sicher ist, ich bin nicht zu-fällig auf die Romita geführt worden und ich bin auch nicht zu-fällig von ihr gegangen!

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